Man verliert diesen Menschen jeden Tag ein bisschen mehr

Foto von Tochter und Mutter beim Spaziergang

Marion, 55 Jahre

"Meine Mutter ist nicht mehr der Mensch, den ich mal gekannt habe. Sie kennt mich ja auch schon lange nicht mehr. Man verliert diesen Menschen jeden Tag ein bisschen mehr, und man kann nichts dagegen tun."

Am Anfang haben wir gar nichts bemerkt. Menschen mit Demenz haben die Fähigkeit, ihre Erkrankung lange Zeit bedeckt zu halten. Zuerst haben wir bestimmte Verhaltensweisen für Marotten gehalten und sind nicht auf den Gedanken gekommen, dass dahinter eine Krankheit stehen könnte. Wir hatten ja keine Erfahrungen damit. Ich hatte zwar schon mal etwas von Alzheimer gehört. Aber ich wusste nur, dass diese Erkrankung etwas mit Vergesslichkeit zu tun hat.

Meine Mutter hat immer sehr viel Wert auf eine perfekte Wohnung gelegt und war auch immer perfekt zurechtgemacht. Irgendwann war das dann nicht mehr so. Beispielsweise hing zu Weihnachten hier und da noch die Osterdekoration. Das waren so Kleinigkeiten. Oder dass sie nicht mehr zum Friseur ging oder sich nicht mehr mit ihren Freundinnen traf. Ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass das Anzeichen einer Demenzerkrankung waren.

Später haben wir überall Zettel in der Wohnung gefunden. Manchmal standen auch der Name meines Bruders und mein Name darauf. Teilweise waren die Namen falsch geschrieben.

Ich habe das auf das Alter geschoben. Aber die Auffälligkeiten wurden immer gravierender und meine Mutter wurde immer seltsamer. Ich fand zum Beispiel sehr verwunderlich, dass sie plötzlich Angst hatte, in den Urlaub zu fliegen. Meine Mutter hatte ein Leben lang große Reisen in alle Welt unternommen. Und nun hatte sie Angst, allein nach Spanien zu fahren.

Meine Mutter hatte an vielen Dingen kein Interesse mehr

Ich vergleiche diese Auffälligkeiten manchmal mit Zahnschmerzen. Die kommen mal, dann gehen sie wieder und dann kommen sie immer öfter und irgendwann tut es so weh, dass man etwas unternehmen muss. Und so war das dann bei meiner Mutter auch. Sie hatte an vielen Dingen kein Interesse mehr. Sie traf sich nicht mehr mit ihren Freunden, ging nicht mehr zu Veranstaltungen so wie früher. Es waren viele Kleinigkeiten, die uns dann bewogen hatten, etwas zu tun.

Ich habe eine Freundin, die im medizinischen Bereich arbeitet und ich hatte sie gebeten, uns zu besuchen. Sie hat sehr schnell erkannt, um was es sich handelt und hat die Vermutung auch ausgesprochen. Ich habe dann zu ihr gesagt: „Das ist ja verrückt. Nur weil ein Mensch ein wenig komisch ist, muss er nicht gleich Alzheimer haben. Alzheimer ist doch etwas, wo man Dinge vergisst.“ Also, ich hatte damals überhaupt keine Ahnung von dieser Erkrankung.

Wir haben gedacht, dass sie halt etwas vergesslich wird

Ich habe dann meine Mutter überredet, mit mir zum Arzt zu gehen. Ich sagte ihr, dass ich zum Neurologen müsste. Ich hatte nicht den Mut ihr zu sagen, dass sie sich untersuchen lassen muss. Der erfahrene Arzt hat es schnell mit den üblichen Tests erkannt und im normalen Gespräch waren die Aussetzer sehr deutlich zu spüren gewesen. Sie konnte auf bestimmte Fragen nicht antworten. Er hat zum Beispiel gefragt, wie unser Bundeskanzler heißt. Meine Mutter antwortet darauf „Ja, wissen Sie das denn nicht?“ Das war typisch, dass sie immer mit einer Gegenfrage geantwortet hat. Sie war dann eine Woche stationär in Behandlung und dann hatten wir die . Aber wir wussten immer noch nicht, was die wirklich bedeutet. Wir haben immer noch gedacht, dass sie dann halt etwas vergesslich wird.

In den Anfangszeiten der Erkrankung hat sie zu mir gesagt „Ich glaub, ich werde verrückt.“ Sie hatte schon länger gespürt, dass etwas mit ihr nicht stimmt.

Als ich mir dann Informationen eingeholt hatte, fiel zum ersten Mal das Wort „Verlust der Alltagskompetenz“. Darunter konnte ich mir aber auch nicht so viel vorstellen. Bis ich merkte, dass meine Mutter im häuslichen Bereich nicht mehr klarkam. Sie wurde zwar medizinisch behandelt, lebte aber noch allein. Sie wohnte 15 Kilometer von uns entfernt. Neben meinem Job bin ich dann fast jeden Tag zu ihr gefahren. Irgendwann hat mir die Krankenkasse einen Hinweis auf eine Pflegeeinstufung gegeben. Die Ärztin, die meine Mutter begutachtet hat, hat mir dann noch mehr Informationen gegeben, so dass ich annähernd wusste, was auf mich zukommt. Was aber tatsächlich auf uns zukam, war noch viel schlimmer. Ich hatte gedacht, dass meine Mutter bestimmt noch gut im Betreuten Wohnen aufgehoben sein würde. Aber die Ärztin hat mir den Zahn gezogen und meinte, dass meine Mutter schon lange kein Fall mehr für das Betreute Wohnen sei. Dann ist der Entschluss entstanden, Mutter zu uns zu holen. Zwar in eine eigene Wohnung, aber hier im Haus. Das haben wir dann auch mit meiner Mutter besprochen. Wir haben nicht bemerkt, dass das meine Mutter zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr verstehen konnte. Als der Umzug dann stattfand, war meine Mutter sehr außer sich, weil sie es nicht verstanden hat. Sie ist regelrecht auf mich losgegangen.

Ehe ich mich versah, war ich in der Rolle der pflegenden Angehörigen

Ich habe mir gedacht, dass ich die Mutter dann zu Hause versorgen werde, so wie man sich das immer vorstellt. So nach dem Motto, dass ich ein wenig den Haushalt mitmache, koche und einkaufe. Ich ahnte nicht, dass meine Mutter zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr in der Lage war, den Haushalt zu führen. Das war schon eine schlimme Erkenntnis. Und ehe ich mich versah, war ich in der Rolle der pflegenden Angehörigen.

Ich war zu diesem Zeitpunkt noch berufstätig. Ich hatte das Glück, mir die Zeit selber einteilen zu können. Es setzten bei mir jedoch erhebliche Konzentrationsstörungen ein. Mit einem Ohr war ich ja immer zu Hause, ob bei der Mutter alles in Ordnung ist. Ich war ständig hin- und hergerissen. Zwischen dieser Sorge und der Angst, mit der Erkrankung nicht umgehen zu können. Wenn ich damals gewusst hätte, wie die Krankheit verläuft und was sie auch bei den Angehörigen anrichtet, dann hätten wir viele Situationen entschärfen können und manches wäre nicht eskaliert.

So nahm es weiter seinen Lauf. Fast alle von Mutters früheren Freunden und Bekannten ließen sich erst gar nicht mehr blicken. Ab und zu rief jemand an, aber auch das schlief später ganz ein. Als die Krankheit ausbrach, lösten sich alle in Luft auf. Ich habe mir dann oft Stress bereitet, weil ich alles versucht habe, damit meine Mutter noch am Leben teilnehmen konnte. Irgendwann blieb aber der Job auf der Strecke. Es ging nicht mehr anders.

Ich musste auch lernen, die Aggressionen zu ertragen

Es waren so viele Kleinigkeiten. Es fing mit der Körperpflege an. Ich habe keinen Pflegeberuf gelernt und wusste ja gar nicht, wie man das am besten anstellt, vor allem wenn sich die Mutter weigert. Da waren auch einige Hemmschwellen zu überwinden. Meine Mutter kommt aus einer Generation, die es nicht gewohnt war, sich vor ihren Kindern auszuziehen. Und ich war es auch nicht gewohnt, meine Mutter zu duschen. Ich musste das alles lernen. Ich musste auch lernen, die Aggressionen zu ertragen. Wenn ich die Krankheit damals besser verstanden hätte, wäre vieles einfacher gewesen. Wenn ich gewusst hätte, dass die Aggressionen ihre Art der Kommunikation und des Umgangs mit der Erkrankung waren und nicht dazu gedacht waren, mir eins auszuwischen. Ich habe immer gedacht, dass sie sich über mich lustig macht. Das hat in mir auch ein gewisses Aggressionspotenzial geschürt.

Meine Mutter wurde medikamentös behandelt. Mit einer Dosiserhöhung wurde es eine Zeit lang wirklich besser. Aber es blieb nicht so. Es hat sich dann trotzdem, wenn auch langsamer, weiter verschlechtert. Die Situation ist dann eskaliert. Ich habe meiner Mutter immer morgens beim Aufstehen, Waschen und Anziehen geholfen. Ich stand vor ihr und wollte ihr die Knöpfe vom Nachthemd öffnen, als sie mir ohne Vorwarnung die Hände um den Hals gelegt hat. Ich bin umgefallen und sie lag auf mir und drückte mir den Hals zu. Das war das Allerschlimmste, was ich jemals in meinem Leben erfahren habe. Nach langer Auseinandersetzung mit der Erkrankung und den Erfahrungen, die ich heute habe, weiß ich, dass das nicht persönlich gemeint war. Jetzt kann ich darüber reden. Damals hat das zu einem Nervenzusammenbruch geführt. Daraufhin wurde im Familienkreis beschlossen, dass wir für sie einen Heimplatz suchen. Früher hatte ich immer gedacht, die Mutter kommt erst in ein Heim, wenn sie ein Pflegefall ist. Aber meine Mutter war längst ein Pflegefall. Ich habe den Begriff Pflegefall für mich damals anders interpretiert. Ich dachte immer, dass das eintritt, wenn jemand bettlägerig ist.

Ich habe gedacht, dass ich versagt habe

Meine Mutter ist dann in ein sehr gutes Heim gekommen. Ich hatte dennoch ein ganz schlechtes Gewissen. Ich habe mich gefühlt wie ein Schwein. Ich habe gedacht, dass ich versagt habe. Meine Mutter hat jedoch in dem Heim sehr schnell Anschluss gefunden, vor allem an eine andere Frau mit Demenz. Die beiden hatten ein sehr inniges Verhältnis.

Meine Mutter ist nicht mehr der Mensch, den ich mal gekannt habe. Meine Mutter kennt mich ja auch schon lange nicht mehr. Es hat mich einfach umgehauen, als sie mich eines Tages fragte: „Sind Sie meine Tochter?“ Das war ein Albtraum. Ich kann nicht in Worten schildern, was in mir vorging. Ich fühlte mich ausgeschlossen aus ihrem Leben. Man verliert diesen Menschen jeden Tag ein bisschen mehr. Und man kann nichts dagegen tun. Man muss das aushalten und ertragen.

Auch wenn meine Mutter jetzt im Heim lebt, sind noch Entscheidungen zu treffen. Beispielsweise stehen Entscheidungen an, falls Schluckstörungen auftreten sollten. Stimme ich dann der Sondenernährung zu? Ich selbst bin nicht dafür, aber wenn ich für meine Mutter entscheiden soll? Oder auch wenn Untersuchungen anstehen. Ich muss ständig für meine Mutter entscheiden und ich kann sie nicht mal fragen, was sie möchte.

Bei uns hat sich nahezu alles verändert

Meine Kraft schöpfe ich aus meiner Familie. Bei uns hat sich nahezu alles verändert. Meine Wahrnehmung der Dinge hat sich verändert. Viele Dinge, die mich früher aufgeregt haben, mit denen gehe ich jetzt gelassener um. Ich mache seit vielen Jahren Tai-Chi. Während der Zeit der häuslichen Pflege hat das aber irgendwann auch nicht mehr geholfen. Zum Beispiel habe ich Schlafstörungen und Magenschmerzen entwickelt. Ich bin irgendwie nicht mehr zur Ruhe gekommen. Ich habe immer gedacht, dass ich keine Hilfe brauche, sondern dass ich es allein schaffe. Aber ich habe es nicht geschafft, sondern es hat mich geschafft. Ich habe meine Grenzen überschritten. Ich habe lange gedacht, dass ich es unter Kontrolle habe. Das war aber ein Trugschluss.

Es gibt ja die Auffassung, dass der Kranke nichts mehr spürt. Dagegen gehe ich sehr massiv vor. Meine Mutter kennt mich zwar nicht mehr. Das spielt aber keine Rolle, sie spürt es, wenn ich ihr über den Rücken streichle und eine Melodie summe, die sie vielleicht noch kennt.

Ich habe mich während der Zeit der Pflege des Öfteren über sie aufgeregt. Es gab Zeiten, da habe ich versucht, mit ihr zu diskutieren. Das hat aber nichts gebracht. Ich bin dann immer instinktiv aus diesen Situationen herausgegangen und habe es nicht eskalieren lassen. Heute weiß ich, dass das richtig war. Ich bin dann einfach aus dem Raum rausgegangen und meine Mutter hatte das Ganze dann ganz schnell vergessen. In mir hat es dann schon eine Weile weitergearbeitet. Man vergisst es nicht so schnell, wenn man von der eigenen Mutter beschimpft wird. Aber wenn man weiß, wie die Krankheit funktioniert, dann weiß man, dass man damit nicht gemeint ist. Sondern es ist ihre Art, sich gegen die Krankheit zu wehren.

Es gab auch Situationen, da kann ich heute noch drüber lachen

Es gab auch Situationen mit meiner Mutter, da haben wir uns köstlich amüsiert. Wenn sie gut gelaunt war, dann war das schon die halbe Miete. Wir haben oft über Situationskomik herzlich gelacht. Es gab Situationen, da kann ich heute noch drüber lachen. Ich wollte meine Mutter ja so gut wie es geht in den Alltag integrieren und habe mit ihr viele Dinge unternommen. Zum Beispiel waren wir in einem Supermarkt einkaufen und standen an der Kasse. Vor uns stand ein Mann und meine Mutter haute ihm auf den Hintern. Er drehte sich um und schaute mich an. Ich hätte im Boden versinken können! Ich habe mich ja auch nicht getraut zu sagen, dass meine Mutter krank ist. Das habe ich auch sonst nie gemacht. Meine Mutter stand freudestrahlend daneben, so nach dem Motto: „Die war es!“ Es gab auch schöne Momente, wenn wir Fotos oder alte Filme angeschaut haben. Dann blühte sie immer richtig auf. Sie kannte ja die alten Schauspieler beim Namen. Das war schon sehr beeindruckend. Vieles klappte nicht mehr, aber die Namen wusste sie.

Ich finde es wahnsinnig wichtig, die Krankheit zu verstehen. Und es ist auch sehr wichtig, dass die Angehörigen für sich selber sorgen. Wenn es den Angehörigen gut geht, dann geht es auch den Kranken gut. Ich finde es auch wichtig, frühzeitig Hilfe anzunehmen und die zuzulassen, auch wenn man Angst davor hat.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Aktualisiert am 25. August 2021

Nächste geplante Aktualisierung: 2024

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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