Ich hatte das Gefühl, anders zu sein

Foto von Mann in einer Selbsthilfegruppe

Sven, 36 Jahre

„Das Wichtigste für mich war die Erkenntnis, dass mein Verhalten nichts mit meinem Charakter zu tun hat. ADHS ist eine Erkrankung, eine Besonderheit, mit der man leben und mit der man zurechtkommen kann.“

Als ich 17 Jahre alt war, wurde bei mir ADHS diagnostiziert, das ist jetzt 19 Jahre her. Ich bin damals nicht auf Drängen meiner Eltern zum Arzt gegangen, sondern habe selber gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich hatte ab und an depressive Phasen. Der Kinderarzt hat dann eine depressive Verstimmung als Folge von ADHS diagnostiziert.

Mit der ADHS hatte ich allerdings nicht gerechnet und konnte erstmal nicht so viel damit anfangen. Im Laufe der Zeit konnte ich mir aber einiges in der Vergangenheit erklären. Das Wichtigste für mich war die Erkenntnis, dass mein Verhalten nichts mit meinem Charakter zu tun hat. ADHS ist eine Erkrankung, eine Besonderheit, mit der man leben und mit der man zurechtkommen kann, das war das Wichtigste für mich.

Ich hatte das Gefühl, anders zu sein

Ich habe eine sehr schöne Kindheit gehabt, in einem sehr guten und strukturierten Elternhaus. In der Schule war es jedoch nicht leicht: Oft war ich völlig überdreht, impulsiv und mir fiel es sehr schwer, mich zu konzentrieren. Ich war der Klassenclown. Außerdem hatte ich sehr viele Fehlzeiten in der Schule und musste zwei Klassen wiederholen. Auffällig war auch, dass mir etwa fünf Stunden Schlaf reichten, dann war ich wieder fit.

Ich konnte keine Niederlagen ertragen

Ich habe mich schon früh unter hohen Erfolgsdruck gesetzt und einen Ehrgeiz entwickelt, an dem ich oft gescheitert bin. Der Sport war in meiner Kindheit und Jugendzeit sehr wichtig und schön für mich, aber gleichzeitig habe ich auch sehr darunter gelitten. Zu gewinnen war toll, aber zu verlieren weniger. Das konnte ich nur schwer verkraften und habe dann zum Beispiel den Tennisschläger zertrümmert oder Ähnliches. Das war nicht so schön.

Aber ich habe es geschafft, die Schule und meine Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Dabei hat mir sehr geholfen, dass ich ein Ziel und einen Traumberuf hatte: Ich wollte unbedingt in die Fußstapfen meines Vaters treten. In der Ausbildung war ich sehr ehrgeizig, das Lernen hat mir Spaß gemacht und ich habe kaum gefehlt. Nach Abschluss der Ausbildung habe ich mich direkt selbstständig gemacht. Heute habe ich eine Firma, eine Familie und ein Kind. Meine Frau hat einen sehr ruhigen Charakter, wir ergänzen uns sehr gut.

Medikamente helfen mir, mein Leben zu meistern

Der Arzt hat mir damals Medikamente verschrieben. Als Jugendlicher hatte ich in der ersten Zeit mit den Medikamenten häufiger Kopfschmerzen und mir war übel. Das hat sich aber mit der Zeit gelegt. Ich nehme bis heute Tabletten ein, mittlerweile aber in Absprache mit meinem Arzt nur noch bei Bedarf. Es sind Retard-Tabletten (Anm. d. Red.: Tabletten mit verlängerter Wirkung) und ich komme gut damit zurecht.

Die positive Wirkung der Medikamente spüre ich nach wie vor: Wenn ich früh zur Arbeit komme, handle ich viel ruhiger, strukturierter und arbeite alles nacheinander ab. Wenn ich keine Medikamente eingenommen habe, versuche ich dagegen, alles gleichzeitig zu erledigen und fange vieles an, schaffe es aber nicht, die Dinge ordentlich abzuschließen. Das ist ziemlich anstrengend. Mit Medikamenten geht es viel besser, ich bin auch viel besonnener.

Ohne Medikamente bin ich unruhig, chaotisch und unstrukturiert

ADHS zeigt sich bei mir noch heute darin, dass ich nicht zur Ruhe komme: Ich möchte immer 1000 Dinge gleichzeitig machen, egal ob beruflich oder privat. Die Arbeit ist mir sehr wichtig, ich treibe exzessiv Sport und kümmere mich intensiv um meine Familie. Der Tag müsste für mich mehr als 24 Stunden haben.

Außerdem bin ich auch körperlich unruhig, ich muss immer wieder mal aufstehen und herumlaufen und habe das Gefühl, innerlich getrieben zu sein. Im Urlaub schaffe ich es nicht, länger als drei Stunden am Strand zu liegen, dann muss ich aktiv werden. Was mich heute am meisten belastet, ist das Fingernägelkauen. Das ist mir sehr peinlich. Ich mache das immer wieder unbewusst und schaffe es nicht, es zu lassen.

Was mir auch schwer fällt, ist, Ordnung zu halten und strukturiert meinen Tagesablauf zu planen. Ich bin selbstständig und brauche im Beruf – aber auch im Alltag – immer wieder Hilfe. Meine Frau gibt mir jeden Tag einen Zettel mit Aufgaben, den ich schön abarbeite. Ohne Unterstützung wüsste ich auch nicht, wo ich die Schlüssel hingelegt oder etwas abgeheftet habe, und meine Postablage wäre zwei Meter hoch. Ich weiß zum Beispiel auch nicht, wie ich mein Konto einsehen oder etwas überweisen kann.

Ich schätze meine Stärken: den Ehrgeiz und meine sozialen Fähigkeiten

Andererseits habe ich einen außerordentlichen Ehrgeiz. Alles was ich schaffen möchte, erreiche ich in der Regel auch. Dann mache ich es aber sehr exzessiv, oft arbeite ich bis spät in die Nacht hinein. Ich versuche alles perfekt und dabei möglichst gleichzeitig zu machen. Zusätzlich zu meinem Beruf, meiner Familie und meinem Sport mache ich zum Beispiel gerade auch eine Ausbildung zum Hundetrainer.

Außerdem bin ich sehr kommunikativ und kann gut mit Menschen umgehen. Das ist eine weitere Stärke von mir.

Mit der Zeit habe ich Strategien gefunden, mit mir selbst klarzukommen. Meine Impulsivität habe ich heute viel besser im Griff. Die körperliche Unruhe ist allerdings geblieben, auch dass ich viel rede. Aber das sind Dinge, mit denen ich mittlerweile gut umgehen kann.

Ich habe beruflich viel mit Menschen zu tun, die ADHS haben, und arbeite ehrenamtlich in der Selbsthilfe. Ich gebe sehr gern meine Erfahrungen aus den letzten 20 Jahren an andere weiter. Das macht mir wirklich Spaß.

Sich auf das Leben konzentrieren und nicht auf die Erkrankung

Bei meiner Mutter wurde erst im Erwachsenenalter ebenfalls ADHS festgestellt, das war vor zehn Jahren. Sie nimmt jetzt Medikamente und kommt gut mit ihnen zurecht. Mein Sohn ist jetzt etwa zweieinhalb Jahre und mir wird immer wieder die Frage gestellt, ob er auch an ADHS erkrankt ist. Darum mache ich mir aber jetzt noch keine Gedanken. Selbst wenn es so sein sollte, dann ist es so. Es kommt immer darauf an, was man daraus macht. Er hat viel Blödsinn im Kopf, wie sein Vater. Und das ist völlig in Ordnung.

Ich finde es wichtig, sich auf das Leben zu konzentrieren und nicht auf die Erkrankung. Man sollte auf die Stärken schauen, auf das, was man kann und nicht auf das, was man nicht kann. ADHS ist ja keine lebensbedrohliche Erkrankung. Sich das Positive anzuschauen, wenn man Kinder mit ADHS hat, ist glaube ich das Wichtigste. Ich hatte da großes Glück. Meine Eltern haben bei mir gefördert, was ich gut kann und mir nicht immer gezeigt, was ich schlecht oder gar nicht kann.

Ich komme gut durchs Leben damit: ADHS sehe ich nicht als Erkrankung, sondern als meine persönliche Besonderheit an. Ich kann einiges nicht – aber dafür vieles, was andere nicht können.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Aktualisiert am 04. Mai 2022

Nächste geplante Aktualisierung: 2025

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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