Ich habe gelernt, umsichtig zu sein

Foto von nachdenklichem Mann

Christian, 53 Jahre

„Für mich ist Achtsamkeit sehr wichtig: in sich hineinhören, sich beobachten, wachsam bleiben und dann entsprechend reagieren. Überlegen, warum man trinkt. Wann man trinkt. Wie viel man trinkt. Was der Alkohol mit einem macht. Und falls man merkt, da passieren Dinge, die man nicht will: sich Hilfe holen.“

Ich war etwa zwölf Jahre alt, als ich meinen ersten Vollrausch hatte. Meine Mutter und mein Stiefvater haben sehr viel getrunken und es zugelassen, dass ich schon als Kind angefangen habe, Alkohol zu trinken. Damals wurde wohl oft noch nicht so kritisch darüber nachgedacht wie heute.

Ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich bei hochprozentigem Alkohol merkwürdig reagiere: Ich werde aggressiv. Das war in jungen Jahren schon so.

Als mir klar wurde, dass es zur Routine wird, mir Bierkästen zu kaufen und auch regelmäßig betrunken zu sein, konnte ich für mich erstmal die Bremse ziehen. Ich ging ja noch zur Schule und spürte: Das ist nicht richtig. Ich merkte, wie der Alkohol und das Drumherum mich veränderten. Das wollte ich nicht. Aber der Grundstein für meinen Alkoholismus war da schon gelegt.

Falsche Freunde und Suche nach Hilfe

Ich habe es dann für ein, zwei Jahre geschafft, meinen Alkoholkonsum zu reduzieren. Aber im Grunde war ich schon auf dem Weg in die Abhängigkeit. Ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu Hause gewohnt, sondern in einem Jugendwohnheim. Dort habe ich die falschen Freunde kennengelernt. Ich habe unbewusst versucht, auf mich aufmerksam zu machen, meist mit Gewalttätigkeiten unter Alkohol.

Ich wurde immer wieder mit Alkoholvergiftungen auf dieselbe Intensivstation eingeliefert. Später ist mir aufgefallen, dass diese vielen, provozierten Krankenhausaufenthalte wohl eine Art Hilferuf waren, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich habe mich im Krankenhaus immer sehr wohl gefühlt, auch wenn das komisch klingt. Ich hatte meine Ruhe, aber auch Menschen, die mir helfen wollten. Hilfe konnte ich damals allerdings noch nicht annehmen.

Erste therapeutische Erfahrungen

Irgendwann sollte ich wieder dort eingeliefert werden, aber das Krankenhaus wollte mich nicht mehr aufnehmen. Ich kann mich an nichts erinnern, aber ich war wohl extrem aggressiv. Deshalb wurde ich in ein psychiatrisches Krankenhaus auf eine geschlossene Station gebracht und später auf eine Suchtstation verlegt. Da war ich 18 Jahre alt.

Ich blieb vier Wochen dort. Das Gesundheitsamt kümmerte sich sehr um mich und organisierte eine , in einer Einrichtung speziell für Jugendliche und junge Erwachsene. Das war eine sehr gute Zeit für mich und ich habe danach lange ohne Alkohol gelebt. Aber tief im Herzen habe ich nicht verstanden, worum es eigentlich geht.

Durch Erkrankungen wurde ich aus der Bahn geworfen

Nach der habe ich viel in unterschiedlichen Branchen gearbeitet, um Geld zu verdienen. Dann bekam ich einen Bandscheibenvorfall und erkrankte an den Augen. Ich wurde dann Anfang der 90er Jahre zu einem „Reha-Fall“.

Das war eine sehr kritische Zeit für mich. Und ich dachte mir: Alkoholfreies Bier wäre jetzt gut. Einige Biersorten hatten damals einen herben Geschmack, was ich immer gern mochte. Ich bin davon ausgegangen, dass ein alkoholfreies Bier nicht schlimm für mich ist. Da hatte ich mich getäuscht. Ich war oft allein und steigerte den Konsum. Am Ende trank ich wieder Bier mit Alkohol, langsam immer mehr.

Freunde haben mich motiviert, eine Ausbildung zu machen, weil ich damals noch keine hatte. Aufgrund meiner Augenerkrankung habe ich dann eine Ausbildung für sehbehinderte Menschen begonnen. In der Ausbildungsstätte wurde aber viel getrunken und ich habe nach einem Jahr die Ausbildung unterbrochen. Offiziell wegen meiner Rückenprobleme. Aber eigentlich wegen meines Alkoholproblems.

Dann lernte ich eine Frau kennen, die mich etwas aus dem Sumpf gezogen und mir gezeigt hat, wie eine Lebensplanung aussehen kann. Ich habe meinen Alkoholkonsum reduziert und mich nicht mehr gehen lassen. Meine Freundin hat mich dann motiviert, die Ausbildung wiederaufzunehmen.

Ich habe wieder mehr getrunken, bis zum Absturz

Zurück in der Ausbildungsstätte hat es eine Woche gedauert, dann hing ich wieder an der Flasche. Es haben dort ja fast alle getrunken. Das ging eine ganze Weile gut. Wir haben trotz Alkohol unsere Leistung gebracht. Dann bekam meine Freundin davon mit. Sie hatte es sicher aber schon längere Zeit gewusst. Ich kam immer öfter mit einer Alkoholfahne heim. Letztlich hat sie sich deshalb von mir getrennt. Und mir auch sehr deutlich gesagt, warum.

In meiner ersten Alkoholphase in jungen Jahren habe ich meist bis zur Bewusstlosigkeit getrunken. Den ganzen Tag über. Nach meinem war das nicht mehr so, ich trank nicht mehr oder nicht mehr so oft bis zur Bewusstlosigkeit. Und ich trank meist abends, nicht mehr so sehr am Tag. Aber ich hatte immer einen Kontrollverlust: Ich konnte nicht aufhören.

Ich habe in der Regel am Abend in einer Kneipe zu trinken begonnen, um dann daheim weiter zu trinken. Der Kühlschrank war immer voll. Manchmal bin ich zur Not in der Nacht mit dem Taxi zur Tankstelle gefahren, um einen Kasten Bier zu kaufen.

Entzugserscheinungen und Selbstvorwürfe

Ich hatte immer einen gewissen Zeitdruck im Nacken: die Entzugserscheinungen, wenn der Alkoholpegel sank. Dann wurde ich zittrig, hab mich total unruhig gefühlt. Also habe ich zugesehen, dass immer etwas Alkohol daheim war. Manchmal musste ich mich übergeben. Dann habe ich einfach das nächste Bier hinterher getrunken. Die Entzugserscheinungen legten sich dann langsam. Am Ende war ich manchmal schon von einer Flasche Bier betrunken. Ich habe nichts mehr vertragen.

Oft bin ich mit etwas Widerwillen zum Kühlschrank gegangen, mit dem Selbstvorwurf, dass ich mal weniger trinken müsste. Dann habe ich mir immer gesagt: Morgen wird alles anders. Aber am nächsten Tag war gar nichts anders. Ich habe das allein nicht geschafft.

Mein Körper und meine Psyche veränderten sich. Neben den Entzugserscheinungen und den astronomisch hohen Leberwerten hatte ich mit der Zeit immer öfter Wortfindungsstörungen und konnte mir Telefonnummern nicht mehr so gut merken. Der Umgang mit Zahlen, worin ich immer gut war, fiel mir immer schwerer. Und ich hatte keine sozialen Kontakte mehr. Bei dem einen geht der Abstieg schneller, bei dem anderen langsamer. Aber es geht immer bergab. Um etwas zu ändern, musste ich ganz unten ankommen.

Was mich zu einer grundsätzlichen Änderung bewegte

Mein Arbeitsplatz nach der Ausbildung war zwar sicher und ich habe auch angefangen zu arbeiten, aber ich war körperlich und psychisch ziemlich erledigt. Ich war am Arbeitsplatz durch meine Behinderung in gewisser Weise geschützt und es hat sich niemand getraut, mich auf den Alkoholkonsum anzusprechen. Im Nachhinein denke ich, sie hätten mich besser ansprechen sollen. So habe ich mich immer weiter mit dem Alkohol runtergewirtschaftet.

Irgendwann bin ich dann aus dem Dienst ausgeschieden, weil ich nicht mehr konnte. Und war allein. Und habe weiter getrunken. Eine Integrationsmaßnahme, die ich vom Arbeitsamt angeboten bekam, habe ich abgebrochen oder besser: Ich habe es vor die Wand gefahren, weil ich dort jeden Tag mit einer Alkoholfahne erschienen bin.

Mein Arzt hat mir zudem Angst gemacht, dass meine Leber nicht mehr gesund ist und da etwas Schlimmeres sein könnte. Ich hatte viele körperliche Schmerzen und den einen oder anderen kalten Entzug, was sehr gefährlich ist.

Die körperlichen Folgen, die Arbeitslosigkeit und das Alleinsein machten mir klar: Jetzt MUSS ich etwas tun. Noch habe ich die Möglichkeit, es zu schaffen. Ansonsten habe ich nicht mehr viel Lebenszeit. Mein Arzt hat mich dann an ein Krankenhaus überwiesen. Bevor ich mich auf den Weg dorthin machte, habe ich die letzten Bierflaschen im Ausguss geleert.

Der Grundstein für ein abstinentes Leben

Ich war drei Wochen in dieser Klinik, habe mir selber viel erarbeiten und mich mit mir auseinandersetzen müssen. Ich habe gelernt, nach Hilfe zu fragen und sie dann auch anzunehmen. Mir wurden Fragen gestellt, wie „Was willst Du?“ und wurde bestärkt: „Dann pack es an!“ In dieser Zeit habe ich den Grundstein für bis jetzt 18 selbstbewusste, abstinente Jahre gelegt.

Ich musste da durch und die Zeit dort hat mir sehr geholfen. Mir wurde klar, dass ich auch lernen muss, mit meiner Behinderung anders umzugehen, sie zu akzeptieren und mich anzunehmen, so wie ich bin. Das war meine Chance!

Nach dem Klinikaufenthalt bin ich zum Gesundheitsamt gegangen und dort an eine tolle Beraterin geraten. Wir haben uns gleich sehr gut verstanden. In den Beratungsgesprächen habe ich erzählt und erzählt. Sie hat mich dann an eine Rehaklinik weitervermittelt, für mehrere Wochen .

Ich konnte dort weiter an und mit mir arbeiten. Aber ich habe auch gemerkt: Ich bin noch lange nicht fertig.

Betreuung nach der Reha

Mir war klar, nach den Wochen in der Rehaklinik brauche ich weiter psychotherapeutische Unterstützung. Erstmal trocken zu sein war gut, aber das war noch nicht alles an Aufgaben für mich. Ich musste noch mehr tun.

Ich habe dann tatsächlich eine Beratungsstelle mit Mitarbeitern gefunden, mit denen ich meine Kindheit aufarbeiten konnte. Wieder unter dem Motto: Hilfe suchen, Hilfe annehmen und nette Menschen an sich heranlassen. Ich hatte ja nie gelernt, was Nähe ist. Mir fällt es schwer, Vertrauen zu anderen zu fassen. Das ist heute immer noch so. Aber ich arbeite daran.

Stresstest: Bleibe ich auch bei Problemen trocken?

Ich hatte damals einen Rentenantrag gestellt. Dafür musste ich zu mehreren Institutionen, mich noch mal auf Stellen bewerben und bin in dieser Zeit in Hartz IV gerutscht. Der Rentenantrag wurde erst abgelehnt, ich habe aber Widerspruch eingelegt. Das war ein Stresstest: Halte ich es aus oder trinke ich wieder? Aber ich habe es geschafft! Weil ich ein Ziel vor Augen hatte und immer wieder kleine Erfolgserlebnisse: Zum Beispiel fielen die erforderlichen Gutachten der Ärzte immer positiv für mich aus.

Eine wichtige Erkenntnis für mich war: Der Freundeskreis verändert sich. Man verliert mit der Abstinenz Menschen, von anderen muss man sich verabschieden. Viele meiner Freunde haben ja getrunken und hatten selber Alkoholprobleme. Diesen Schritt muss man gehen. Das ist oft hart, aber sonst ist ein absehbar.

Worauf ich aufpassen muss

Bei depressiven Gedanken muss ich besonders aufpassen. Das sind gefährliche Situationen für mich, um wieder zur Flasche zu greifen und mich zu betäuben. Das kenne ich ja noch von früher. Mir hilft in solchen Situationen, mich zu fragen: Wo bist du mit dem Alkohol gelandet? Wie war das damals? Will ich alles aufgeben, was ich erreicht habe? Will ich wieder so leben? Schafft das mein Körper?

Meine Leberwerte waren ja früher astronomisch hoch. In der Klinik habe ich viele Informationen erhalten, wie sich die Leber verändert und was eine bedeutet. Ich hatte verdammt großes Glück. Meine Leberwerte haben sich wieder gut erholt. Es hat etwas gedauert und ich musste auch meine Ernährung umstellen. Ich hatte viel Wasser in den Beinen, was richtig schmerzhaft war. Ich war dann viel spazieren, habe mich bewegt. Das hat alles gedauert, aber es ist wieder gut geworden. Ich kann wieder rennen – das war ein richtiges Erfolgserlebnis und ich war sehr stolz, nachdem ich anfangs kaum die Treppen hochgekommen bin. Daran erinnere ich mich, wenn es mir mal nicht so gut geht.

Wenn andere mir Alkohol anbieten, dann lehne ich ab mit der Begründung, dass ich aus medizinischen Gründen nicht trinken darf. Das passt und wird akzeptiert, nur wenige fragen nach. Falls jemand hartnäckig versucht, mich zum Trinken zu bringen, gehe ich nach Hause. Oder auch, wenn die anderen betrunken werden. Das kann ich manchmal nicht haben. Ich versuche, niemanden zu bekehren. Jeder hat sein Glück in der Hand.

Ohne Hilfe würde ich es nicht schaffen

Ich kenne nur ganz wenige, die es ohne und ohne eine Selbsthilfegruppe geschafft haben, dauerhaft ohne Alkohol zu leben. Ich lebe jetzt mit einer tollen Frau zusammen, bin ehrenamtlich tätig und das macht mir viel Spaß. Ich habe ein gutes Leben! Aber ich weiß ganz genau, dass ich aufpassen muss – besonders bei depressiven Gedanken.

Wenn ich merke, dass ich depressive Gedanken bekomme, ziehe ich mich etwas zurück und mach Sachen, die mir Spaß machen und guttun. Ich bin ehrlich zu meiner Lebenspartnerin und erzähle ihr davon. Ich habe gelernt, achtsamer mit mir umzugehen und nie zu vergessen, was mal gewesen ist. Das ist sehr wichtig.

Was ich anderen mitgeben würde

Für mich ist Achtsamkeit sehr wichtig: in sich hineinhören, sich beobachten, wachsam bleiben und dann entsprechend reagieren. Überlegen, warum man trinkt. Wann man trinkt. Wie viel man trinkt. Was der Alkohol mit einem macht. Und falls man merkt, da passieren Dinge, die man nicht will: sich Hilfe holen.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

Seite kommentieren

Was möchten Sie uns mitteilen?

Wir freuen uns über jede Rückmeldung entweder über das Formular oder über gi-kontakt@iqwig.de. Ihre Bewertungen und Kommentare werden von uns ausgewertet, aber nicht veröffentlicht. Ihre Angaben werden von uns vertraulich behandelt.

Bitte beachten Sie, dass wir Sie nicht persönlich beraten können. Wir haben Hinweise zu Beratungsangeboten für Sie zusammengestellt.

Über diese Seite

Aktualisiert am 24. Januar 2023

Nächste geplante Aktualisierung: 2026

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

So halten wir Sie auf dem Laufenden

Abonnieren Sie unseren Newsletter oder Newsfeed. Auf YouTube finden Sie unsere wachsende Videosammlung.