Fibromyalgie kann man nicht sehen – sie ist schwer zu fassen

Frau mit blauem Pullover in Park

Özlem, 48 Jahre

„Durch die Erkrankung habe ich zwei Gesichter: Wenn ich unter Menschen bin, wirke ich trotz Schmerzen fröhlich und heiter – danach zu Hause bin ich aber fix und fertig.“

Es hat lange gedauert, bis meine jahrzehntelangen Beschwerden einen Namen bekamen: Fibromyalgie, wörtlich übersetzt „Faser-Muskel-Schmerz“. Man hat Schmerzen, die man sich nicht erklären kann, ist im Vergleich zu anderen Menschen viel schneller erschöpft, berührungsempfindlich und schläft schlecht.

Stechende Schmerzen in Armen und Beinen

Seit meiner Kindheit hatte ich immer wieder Attacken mit stechenden Schmerzen in beiden Beinen, den Armen und der Brust. Und keiner konnte sich erklären, woher sie kamen.

Mit den Schmerzen hatte ich plötzlich auch keine Kraft mehr in den Muskeln und fiel hin, wenn die Beine weh taten. Oder ich ließ Sachen fallen, wenn die Schmerzen in die Arme einschossen. Einige Male war ich sogar bewusstlos und verletzte mich beim Hinfallen, einmal sehr schwer am Knie.

Die Schmerzanfälle kommen immer in Schüben: Es gibt Zeiten, in denen ich nur sehr schwache Beschwerden habe, und dann wieder Zeiten mit heftigen Schmerzattacken. Man kann den Verlauf der Schmerzen nicht voraussagen, das ist ganz unberechenbar.

Ich bin sehr erschöpft und berührungsempfindlich

Unabhängig von den Schmerzanfällen bin ich fast immer angestrengt, erschöpft und sehr ausgelaugt – obwohl ich nichts Anstrengendes unternommen habe.

Und ich bin sehr berührungsempfindlich: Keiner darf mich zum Beispiel an den Beinen anfassen. Außerdem kann ich kaum schwer heben, schlafe schlecht und habe einen trockenen Mund. Seit der Pubertät habe ich regelmäßig Migräne, auch das kann manchmal zusammen mit einer Fibromyalgie vorkommen.

Erst nach 25 Jahren wurde auf Fibromyalgie getippt

Viele Jahre wusste keiner, was ich hatte. Auf eine Erkrankung als Ursache der verschiedenen Beschwerden war niemand gekommen – auch alle Untersuchungen bei Ärzten hatten nichts ergeben.

Erst meine Orthopädin äußerte den Verdacht, dass es eine Fibromyalgie sein könnte, und stellte schließlich auch die .

Es hört sich komisch an, aber als ich hörte, dass das „Kind“ einen Namen hatte, war ich richtig erleichtert. Da war ich schon 35 Jahre alt und lebte seit über zwei Jahrzehnten damit, nicht zu wissen, was ich hatte.

In der Klinik erfuhr ich viel über die Erkrankung

Meine Ärztin hatte mir einen stationären Aufenthalt in einer Klinik empfohlen, die sich mit Fibromyalgie auskannte. Dort wurde ich ausführlich über die Erkrankung aufgeklärt. Das war wichtig und tat mir gut.

Auf der einen Seite war es frustrierend, zu erfahren, dass ich die Schmerzen immer haben werde und es am wichtigsten ist, den Umgang damit zu lernen. Andererseits war es eine Erleichterung, zu hören, dass es keine lebensbedrohliche Erkrankung ist – trotz der Heftigkeit der Schmerzen. So konnte ich es besser einordnen und tröstete mich damit, dass ich genauso lange leben werde wie andere auch.

Was mir damals sehr geholfen hat, waren Aufenthalte in der Kältekammer – erstaunlich, aber es hat gewirkt. Auch regelmäßiger moderater Sport war wirklich der „Gamechanger“: Er hat mir sowohl körperlich als auch psychisch sehr gutgetan. Ich bekam auch Kortison-Spritzen gegen die starken Schmerzen – dies wird heute aber nicht mehr empfohlen.

Trotz Schmerzen und Müdigkeit einfach bewegen und nicht nachdenken

Richtig angefangen mit dem Sport habe ich erst später in einer Reha wegen meines Asthmas – er war gut für das und für die Fibromyalgie. Vorher traute ich mich nicht recht, da ich die Schmerzen nicht verschlimmern wollte, oft müde war und mich nicht aufraffen konnte.

In der Reha wurde ich aber gut begleitet – ich sollte mich trotz der Schmerzen einfach bewegen und nicht nachdenken. Da ich lange nicht mehr richtig Sport gemacht hatte, musste ich von Null beginnen: Am Anfang habe ich nur einmal in der Woche geturnt und leichte Fitnessübungen gemacht – nichts Anstrengendes.

Später fing ich an zu walken, irgendwann war ich sogar dreimal in der Woche unterwegs. Zusätzlich trainierte ich zweimal pro Woche im Sportverein und ging mindestens einmal wöchentlich schwimmen.

Mich hat das Trainieren in der Gruppe mitgezogen, allein wäre ich nicht diszipliniert genug gewesen. Es ist einfach schöner, wenn man gemeinsam unterwegs ist.

Psychische Belastung hat die Schmerzen verstärkt

Im Laufe der Jahre haben manche belastenden Ereignisse die Schmerzen verschlimmert. Zum Beispiel der plötzliche Tod meiner Mutter, die sehr früh gestorben ist. Oder auch eine , die ich vor zehn Jahren hatte.

Damals sind die Schmerzen wieder richtig aufgeflammt, obwohl es mir in den Jahren vorher einigermaßen gut ging. Wegen der bekam ich , dadurch ging es mir psychisch besser. Die Fibromyalgie-Schmerzen haben die Medikamente aber leider nicht gelindert.

Meine Kinder mussten viel Verständnis haben

Die Schmerzen belasteten auch die Beziehung zu meinen Kindern und zu anderen Menschen. Ich hatte ja nicht nur Schmerzen, sondern war sehr müde und aggressiv – auch gegenüber meinen Kindern, die das nicht verstanden. Das tut mir heute sehr leid.

Genauso schwer für sie war, dass ich körperliche Nähe nicht so gut ertragen konnte. Man konnte sich nicht an mich anlehnen. Und ich konnte sie auch nicht tragen oder ihnen etwas Schweres abnehmen. Sonst taten mir sofort die Schultern und der Nacken weh.

Wir haben versucht, meinen Kindern so viel wie möglich zu erklären. Zum Beispiel waren wir mit der gesamten Familie bei meinem Arzt, damit sie ihre Fragen loswerden konnten. Richtig erfasst haben sie es aber trotz Aufklärung nicht, dafür waren sie glaube ich einfach noch zu jung.

Das Schwere ist ja, dass man nichts sieht. Ich sah agil und gesund aus – und war trotzdem überfordert und aggressiv.

Ich fühlte mich auch von vielen Freunden nicht verstanden

Unsere Freunde und viele Erwachsene haben es noch weniger verstanden als die Familie. Für sie war es nicht nachvollziehbar, dass ich schnell müde werde, auch wenn ich mich nicht angestrengt habe und fit aussehe. Das Schwierige bei der Fibromyalgie: Sie ist „schwammig“, hat viele Gesichter und ist nicht richtig zu fassen.

Und ich habe sie auch nicht gezeigt. Ich will die Zeit mit Freunden und in der Arbeit auch genießen und mal nicht an die Schmerzen denken. Wenn ich mit Menschen zusammen bin, bin ich deswegen trotz Schmerzen fröhlich und heiter. Danach zu Hause bin ich allerdings fix und fertig. Durch die Erkrankung habe ich wirklich zwei Gesichter.

Die Selbsthilfegruppe tut gut und stützt mich sehr

Die Selbsthilfegruppen haben mir sehr geholfen. Vor allem der Austausch mit Gleichgesinnten tut gut. Wir unternehmen viel zusammen, unterstützen uns gegenseitig und müssen den anderen nicht viel erklären. Man ist mit dem Ganzen nicht allein.

Früher war ich in der Rheumaliga und heute in der Fibromyalgie-Vereinigung, die etwas spezialisierter ist. Ich habe vielen Freunden und meinen Kollegen Info-Broschüren mitgebracht. Leider haben sie diese nicht gelesen. Und auch mein Angebot, mit zu einer Gruppensitzung zu kommen, hat keiner von ihnen angenommen. Richtig auseinandersetzen mit der Erkrankung wollte sich keiner.

Auch untereinander vergisst man die Krankheit der anderen

Was mir aufgefallen ist: Wir Betroffene vergessen manchmal selbst, dass der andere krank ist und die gleichen Probleme hat. Wenn jemand spontan absagt, findet man es selbst blöd.

Und es ist manchmal mühsam und anstrengend, den ausführlichen Beschreibungen des anderen zuzuhören: „Was man genau für welche Schmerzen wo überall hat“ – das nervt und strengt an.

Genauso wie der Perfektionismus, den viele haben. Man will alles richtig machen, kann sich aber nicht konzentrieren, ist gereizt und überfordert sich und die anderen. Dann verstehe ich manchmal meine Umgebung, die mit mir Geduld haben muss.

Ich kann mir nicht mehr vorstellen zu arbeiten

Die Frühberentung vor zehn Jahren war für mich eine Riesenentlastung. Ich bin Sozialpädagogin und habe Schülerinnen und Schüler betreut, die die Schule geschwänzt haben.

Die Rahmenbedingungen bei der Arbeit waren sehr belastend, auch für Kollegen, die gesund waren. Mich hat das System Schule aber wirklich fertig gemacht. Ich kann mir heute gar nicht mehr vorstellen, arbeiten zu gehen. Das würde ich gar nicht schaffen, auch wenn ich jetzt besser mit der Erkrankung umgehen kann.

Sich Gutes tun und auf sich hören

Wichtig ist, darauf zu achten, sich nicht zu überlasten – auch beim Sport nicht, obwohl er ja guttut und Spaß macht. Früher, als ich allein trainierte, war ich leistungsorientiert und wollte unbedingt meine Kondition verbessern. Das war aber oft zu viel und ich hatte danach noch viel stärkere Schmerzen. In der Gruppe ist das Training sicherer und entspannter, es geht um die Bewegung und nicht um ein Leistungsziel.

Was ich außerdem für mich tue: Ich gönne mir immer wieder eine Auszeit und verreise allein. Der Vorteil ist, dass ich nur für mich entscheiden kann, was ich machen will. Ich muss mich nicht anpassen und abstimmen – so überfordere ich mich nicht und kann Tag für Tag spontan entscheiden, was ich brauche.

Allerdings bin ich allein von meinem inneren Schweinehund abhängig. Wenn die Erschöpfung überwiegt, raffe ich mich nicht auf. Das ist der Vorteil einer Reha: Hier bin ich eingebunden in einen festen Tagesablauf und habe die Gemeinschaft. Deswegen tut es mir gut, in regelmäßigen Abständen eine Reha zu machen. Man kommt aus dem Alltag und dem gewohnten Trott heraus und erhält viele Anregungen.

Auch wenn es belastet, ist es nichts Lebensbedrohliches

Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, besser mit der Fibromyalgie umzugehen. Irgendwann hat es „Klick“ gemacht: Ich mache mir nicht mehr so viele Gedanken über meine Beschwerden. Ich kann sie sowieso nicht ändern und akzeptiere das Leben mit ihnen, als wären sie meine Begleiter.

Mein Tipp: sich darauf konzentrieren, dass es nichts Lebensbedrohliches ist. Diese Erkenntnis war für mich ganz wichtig. Vorher hatte ich bei jeder Schmerzattacke Angst, dass etwas Ernstes dahintersteckt.

Ebenso wichtig ist, nicht so viel auf sich selbst zu hören. Und nicht mehr so viel darüber zu sprechen. Man schwankt ja immer zwischen den Gedanken: „Bin ich jetzt zu empfindlich? Sollte ich etwas abgehärteter und robuster sein?“ und „Rede ich jetzt zu viel davon? Nerve ich die anderen? Nerve ich mich selbst?“

Es hört sich komisch an, aber ich würde empfehlen, nicht so viel auf sich selbst zu hören, sondern sich lieber abzulenken. Das ist vielleicht der wichtigste und gleichzeitig schwerste Tipp.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Über diese Seite

Erstellt am 08. Mai 2024

Nächste geplante Aktualisierung: 2027

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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