Erst in der Reha meiner Tochter ist mir meine Skoliose bewusst geworden

Foto von Frau beim Nordic Walking

Christiane, 56 Jahre

„Als Betroffene mit Skoliose hat man gar kein Gefühl dafür, was gerades Sitzen oder Stehen ist. Ich habe erst in der Reha im Spiegel gesehen, dass ich ‚gerade‘ bin, wenn ich mich gefühlt leicht nach links neige. Man denkt, man ist bolzengerade, dabei liegt man total schief.“

Bei mir wurde die Skoliose erst sehr spät festgestellt, da war ich schon 20 Jahre alt. Ich denke, das wurde übersehen, weil ich als Kleinkind noch eine andere orthopädische Erkrankung hatte: Morbus Perthes, eine angeborene Erkrankung mit Zerfall des Hüftkopfknochens, die durch Hinken auffällt.

Damals sind nur die schweren Skoliosen aufgefallen und behandelt worden. Meine Skoliose war leichter ausgeprägt und wurde nicht behandelt. Ich hatte die später wieder vergessen. Ich hatte aber schon sehr früh Verspannungen und Schmerzen in Rücken und Nacken. Solange ich mich erinnern kann, wurde ich schon zur Massage geschickt wegen der Verspannungen.

Heute habe ich zusätzlich viele andere Beschwerden. Und die beeinflussen die Schmerzen durch die Skoliose und umgekehrt. Das befeuert sich gegenseitig. Was jetzt genau die Skoliose ist und was andere Ursachen hat, ist schwer auseinanderzuhalten. Ich hatte auch mal einen Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule. Und es gab einen Autounfall mit einem , das nie richtig behandelt wurde.

Die Schmerzen sind im Laufe der Jahre stärker geworden

Die Abstände, in denen ich brauchte, sind in den letzten Jahrzehnten immer kürzer geworden. Zu Beginn habe ich vielleicht alle drei Jahre eine Behandlung gebraucht. Heute geht es gar nicht mehr ohne. Im Nachhinein bewerte ich das so: Wenn man schon eine Vorschädigung oder geringere Belastbarkeit hat, wie bei mir mit der Skoliose, dann wirken sich andere Belastungen stärker aus.

Mit Mitte 40 habe ich sehr starke Rückenschmerzen bekommen. Ich habe versucht, zu Hause Übungen zu machen, um mobil zu bleiben. Aber ich fühlte mich manchmal 20 Jahre älter. Das hat meinen Alltag beeinträchtigt, mich psychisch belastet und zu einer gedrückten Stimmung geführt.

Wenn ich länger im Auto sitze oder morgens aufstehe, tun mir Rücken und Nacken so weh, dass ich mich erstmal nicht aufrichten kann. Auch wenn ich zum Beispiel lange fernsehe und dann aufstehe, humpele ich drei Meter gebückt, bevor ich mich ganz aufrichten kann. Durch Bewegung wird es besser. Ich habe immer das Gefühl, ich muss mich erstmal auf normale Körpergröße bringen.

Skoliose bei Mutter und Tochter hat Vor- und Nachteile

Meine Tochter hat auch eine Skoliose, bei ihr wurde diese mit neun Jahren diagnostiziert. Und bei ihr sehe ich den Erfolg des Korsetts sehr deutlich. Obwohl sie in den letzten Jahren einen großen Wachstumsschub hatte, ist die Skoliose zurückgegangen.

Dass wir beide eine Skoliose haben, hat Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite ist es gut, dass sie den Zusammenhang von später Behandlung und starken Schmerzen bei mir sieht. Das motiviert sie, das Korsett konsequent zu tragen.

Aber auf der anderen Seite ist sie davon überzeugt, dass sie später genauso wie ich starke Schmerzen bekommen wird. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass sie die Krankengymnastik nicht macht, weil es ja sowieso nichts nützen würde. Da will sie lieber ihr Leben jetzt genießen, sagt sie. Es ist ja schön, dass sie gar keine Schmerzen hat. Aber deshalb bekommt sie wenig von ihrer Skoliose mit. Da ist der Leidensdruck natürlich nicht so groß.

Erst in der Reha meiner Tochter wurde mir meine eigene Skoliose bewusst

Die erste Skoliose-Reha meiner Tochter war wie ein Augenöffner auch für mich. Ich habe mich zu ersten Mal richtig mit meiner Skoliose auseinandergesetzt und viele Beschwerden besser verstanden.

Es waren vor allem Kleinigkeiten, die mich auf meine eigene Skoliose hinwiesen. Zum Beispiel war mir nicht bewusst, dass die Kleidung deswegen schief saß, weil ich selbst an der Wirbelsäule schief war. Ich hatte mich immer gewundert: Ich kaufte mir eine Jeans und die am Bein lief schief – oder ein Jackett und das hatte wieder eine schräge .

Erst in der Reha meiner Tochter, mit 50 Jahren, habe ich gemerkt, dass es an mir lag und nicht an der Montagshose oder einem Montagsjackett, das nicht gut gearbeitet war. In der Reha merkte ich: Da sind ja lauter Leute, bei denen die Jacken schräg sitzen. Ich habe mich dann direkt dort untersuchen lassen und die bestätigt bekommen.

Mit Muskelkraft und Atemtechnik die Wirbelsäule strecken

In der Reha kam ich in Kontakt mit der speziellen für Skoliose-Patienten nach Schroth. Man hat ja bei der Skoliose nicht nur eine Verschiebung der Wirbelsäule nach links oder rechts, es kommt auch eine Verdrehung dazu. Und die versucht man bei der Schroth-Therapie mit aktiven Muskel- und Atemübungen zu „entwringen“.

Man kann es sich vorstellen wie ein 3D-Dehnen mit Muskelkraft. Und es ist auch anstrengend, man benutzt viele Hilfsmittel wie Reissäckchen als Gewichte. Die Lagerung ist wichtig, oft muss man eine ganz genaue Position auf der Seite, in Bauch- oder Rückenlage einnehmen. Das ist relativ aufwendig.

Einige Rehas habe ich selbst bezahlt

Meine Tochter war einmal jährlich in der Reha, da sie unter 18 Jahre alt war. Als Erwachsene habe ich in der Regel alle drei Jahre Anspruch auf eine Reha. In den Jahren dazwischen bin ich mit meiner Tochter zusammen zur Reha gefahren, habe den Aufenthalt aber selbst gezahlt. Es ist viel Geld, aber es geht mir damit auch viel besser. Andere geben das Geld im Urlaub aus.

Aber so eine Reha mit einer nach Schroth ist schon ein hartes Training, da ist wenig Wellness: Man bekommt zwar einmal in der Woche Massage und zweimal Atemtherapie, vielleicht auch mal . Aber der Rest ist Gruppen- und Einzelphysiotherapie und Stabilisationsgruppe. Also volles Programm von 8 bis 17 Uhr.

Ich habe in der Reha viel gelernt

Ich kann meiner Physiotherapeutin zu Hause, die auch nach Schroth arbeitet, vertrauen. Sie kann eine normale wegen meiner anderen Beschwerden mit der Schroth- und Skoliose-Therapie kombinieren.

Ein normaler , der nicht mit Skoliose-Patienten arbeitet, sagt zum Beispiel, man soll sich gerade hinstellen oder hinsetzen. Als Betroffene mit Skoliose hat man aber gar kein Gefühl dafür, was gerades Sitzen oder Stehen ist. Ich habe erst in der Reha im Spiegel gemerkt, dass ich „gerade“ bin, wenn ich mich gefühlt leicht nach links neige. Man denkt, man ist bolzengerade, dabei liegt man total schief.

Ich mache auch im Fitnessstudio Sport, vor allem Muskelaufbau. Ich achte dann darauf, dass ich eine Seite stärker trainiere als die andere. Da habe ich in der Reha viel gelernt und wende es jetzt selbst an.

Schmerztherapie und Behindertenausweis

In der Reha habe ich noch zwei weitere Dinge gewonnen: Zum ersten Mal in meinem Leben war ich bei einem Schmerztherapeuten. Mittlerweile waren die Beschwerden und Schmerzen nach Jahrzehnten chronifiziert.

Und ich bekam den Hinweis, dass ich wegen der Skoliose einen Antrag auf Behinderung stellen kann. Das wusste ich vorher gar nicht. Ich dachte immer, Behinderung ist gleich Rollstuhl, blind oder eine andere massive Einschränkung. Aber ich habe nicht an die Skoliose gedacht. Ich habe jetzt einen Grad der Behinderung von 30 Prozent bekommen: wegen der Skoliose und wegen der chronischen Schmerzen.

Ich kann Schmerzen wegblenden, das ist nicht immer gut

Eine Folge meiner chronischen Schmerzen: Ich kann körperliche Beschwerden wegblenden und achte nicht so richtig auf den Körper. Einmal habe ich mich am Teewasser verbrannt und erst viel später gemerkt, dass ich eine Riesen-Brandblase hatte.

Auch Blut abnehmen macht mir nichts oder Nasenabstriche für Corona-Tests, da denke ich überhaupt nicht darüber nach. Es hat Vorteile, man funktioniert und konzentriert sich nicht so auf das Negative.

Aber der Preis ist auch, dass man manche Sachen gar nicht mitkriegt. Nach einem Fahrradunfall hatte ich ein verkapseltes Hämatom und noch starke Schmerzen. Ich habe es aber nicht abklären lassen. Ich dachte, das gehört dazu oder es ist wieder mein Schmerzgedächtnis. Erst die Schmerztherapeutin hat mich ermutigt, noch mal zu den Ärzten zu gehen.

Das Schmerzgedächtnis ist nicht eingebildet

Mittlerweile bin ich einfach unsicher, was eine körperliche Reaktion, also „richtiger“ Schmerz ist und was . Ich kann meinem eigenen Schmerzempfinden nicht mehr trauen. Früher dachte ich, ich hätte eine Erkrankung, die nur noch keiner festgestellt hat, zum Beispiel Fibromyalgie oder eine Autoimmunerkrankung.

Es war dann ganz komisch, als mir gesagt wurde, das es auch etwas Psychosomatisches ist. Als ob ich mir das einbilde. Aber auch die psychischen Anteile sind ja nicht eingebildet. Das ist ja da, das Schmerzgedächtnis. Das ist aber sehr schwierig zu akzeptieren in unserer Gesellschaft: Nur was man sehen kann, ist echt.

Die Selbsthilfe hat uns viel Wissen vermittelt

Zur Selbsthilfegruppe vor Ort kam ich über einen Skoliose-Tag in einer Klinik. Meine Tochter und ich sind zum Ganzkörper-Wirbelsäulen-Röntgen gegangen, bei dem der Cobb-Winkel besonders genau bestimmt werden soll. Ich habe mich erkundigt, was sie von dieser Röntgenmethode halten. Die Arbeit des Bundesverbands hat mir sehr gefallen, ich wollte die Interessen von Menschen mit Skoliose und anderen Wirbelsäulendeformitäten mit politischer Schlagkraft unterstützen.

Auch meiner Tochter hat die Selbsthilfe-Organisation geholfen. Wir waren durch einen Arzt verunsichert, der ihr sagte, dass sie kein Korsett mehr tragen und auch keine Reha mehr machen müsste, obwohl sie noch im Wachstum war. Die Selbsthilfe hat uns geraten, eine zweite Meinung einzuholen. Das war sehr wichtig für uns.

Die Selbsthilfe hat immer wieder Wochenenden ausgerichtet mit vielen Vorträgen zu Skoliose. Das war toll, viel Wissen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Und nicht zuletzt war der Austausch sehr gut und unterstützend. Die Selbsthilfe ist auch gut vernetzt und kann oft spezialisierte Ärzte empfehlen, wie bei mir die Schmerztherapeutin.

Durch die Schmerzen habe ich privat und beruflich zurückgeschraubt

Ja, ich bin schon durch die Beschwerden belastet gewesen. Ich bin eigentlich ein disziplinierter und sehr aktiver Mensch. Neben Beruf und Kindern habe ich auch meine Freundschaften gepflegt, und meine Hobbys. Mit der Zeit war ich aber zunehmend belastet. Ich wurde allem nicht mehr gerecht und bin in den Rückzug gegangen.

Früher war ich diejenige, die im Vorstand vom Frauenclub war oder als Elternvertreterin noch ein Ehrenamt übernommen hat. Aber später bin ich sehr stark auf die Bremse getreten. Das haben viele Freunde nicht verstanden. Sie kannten das nicht von mir.

Auch beruflich habe ich einen Gang zurückgeschaltet. Ich hatte eine Führungsposition im Gesundheitswesen, bin dann aber zu einem Institut gewechselt und habe nur noch halbtags gearbeitet. Und die Ehrenämter auf ein verträgliches Maß reduziert.

Auf jeden Fall hätte ich gerne früher eine Reha gemacht. Das hätte mich viel früher zu den richtigen Behandlungen gebracht. Vielleicht hätte ich dann auch nicht diese chronischen Schmerzen und psychischen Belastungen, wer weiß.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Aktualisiert am 03. Januar 2024

Nächste geplante Aktualisierung: 2027

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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