Der offene Umgang mit dem Korsett war gut

Lächelnde junge Frau vor herbstlichem Wald

Marietta, 26 Jahre

„Meine Freunde in der neuen Schule haben mich von Anfang an so angenommen, wie ich bin. Sie kannten mich nicht anders. Sie haben liebevolle Witze gemacht und mir den Spitznamen ‚Turtle‘ gegeben, für ‚Schildkröte‘, mit dem Korsett als Panzer. Das war eine schöne Art, damit umzugehen.“

Als man die Skoliose feststellte, war ich schon 15 Jahre alt. Ich hatte keine Schmerzen, aber im Spiegel gesehen, dass mein Oberkörper krumm war. Beim Orthopäden wurde mir gesagt, dass ich eine Skoliose hätte und mit einer starten sollte.

Ein Jahr später bekam ich enorme Rückenschmerzen und konnte in der Schule nicht mehr lange sitzen. Meine Skoliose hatte sich durch den Wachstumsschub in der Pubertät verschlechtert. Und nach der Röntgenuntersuchung war klar, dass ich ein Korsett brauche. Ich hatte eine Krümmung von 37 Grad an der und 20 Grad an der Brustwirbelsäule. Damit hatte sich die Skoliose in einem Jahr über 10 Grad verschlechtert.

Es stand sogar eine Operation im Raum, wenn die Skoliose noch stärker geworden wäre. Später wurde mir von einem anderen Arzt gesagt, dass ich schon ein Jahr vorher ein Korsett gebraucht hätte und direkt zum Spezialisten hätte gehen sollen.

In der neuen Schule fiel es mir leichter, über das Korsett zu reden

Am Anfang habe ich niemandem von der Skoliose erzählt. Auch bei meinen engen Freunden und in der Schule war es mir unangenehm, dass ich ein Korsett bekommen sollte. Ich war einfach in einem schwierigen Alter. Als Jugendliche möchte man nicht auffallen oder sich verändern. Ich fühlte mich wie der einzige Mensch auf Erden, der ein Korsett bekommt.

Nach der Realschule habe ich die Schule gewechselt. Und das war ein perfekter Schnitt. Denn genau in der Übergangszeit bekam ich mein Korsett. Und den neuen Mitschülern habe ich das sofort kommuniziert. Es war leichter, weil sie mich gar nicht anders kannten.

Nach der ersten Reha war ich sehr dankbar

In dem Sommer war ich auch zum ersten Mal in der Reha. Und das hat mir sehr geholfen. Nicht nur das Medizinische war gut. Neben dem Korsett bekam ich eine intensive nach Schroth mit vielen Korrekturen und Anleitungen. Und auch das Menschliche war hilfreich. Gerade der Austausch mit anderen Jugendlichen hat mir gezeigt: Ich bin nicht allein.

Und ich war sehr dankbar, weil ich sah, dass es anderen viel schlechter ging als mir. Ein Mädchen war frisch operiert worden, sie hatte mir auf Röntgenbildern gezeigt, wie ihre Wirbelsäule vor der OP aussah. Ihre Skoliose hatte 80 Grad, das war schon extrem. Für mich war das ein starker Ansporn, das Korsett zu tragen, weil ich auf keinen Fall operiert werden wollte.

Bei einer späteren Reha habe ich ältere Damen kennengelernt, die eine so starke Skoliose hatten, dass man den Rippenbuckel auch im Stehen sah. Da habe ich erst verstanden, dass früher die Behandlung von Skoliose nicht so gut war wie heute. Und dachte noch mal: Ich habe wirklich Glück.

Den Druck habe ich mir selbst gemacht

Weil ich solche Angst vor einer Operation hatte, war ich sehr ehrgeizig und habe mir selbst Druck gemacht. Meine Eltern haben mich nie so gestresst wie ich mich selbst.

Zu Beginn sollte ich das Korsett jeden Tag eine halbe Stunde länger tragen, um mich daran zu gewöhnen. An den Plan habe ich mich genau gehalten und war sogar strenger als nötig.

Ich wollte das Korsett bis auf die Zeit beim Duschen und beim Sport schon früher als geplant Tag und Nacht tragen. Im Sommer hätte ich es wegen der Hitze auch mal ausziehen können, wollte das aber nicht.

Das Korsett auch mal durchs Zimmer geworfen

Aber es war sehr schwer, sich an das Korsett zu gewöhnen. Es hat gedrückt, ich habe geschwitzt und konnte nicht schlafen. Der Arzt und der Korsettbauer waren damals ziemlich cool und haben mir geholfen dranzubleiben. Als ich zum ersten Mal dort war, sagte der Arzt: „Wenn du mal keinen Bock hast, dann nimmst du halt das Korsett und wirfst es in die Ecke.“ Daraufhin hat er mein Korsett in die Hand genommen und quer durch die Werkstatt gepfeffert.

Die ersten Nächte mit dem Korsett habe ich die Schmerzen schwer ausgehalten und habe seinen Rat tatsächlich befolgt: Ich habe das Korsett ausgezogen und zwei, drei Mal quer durchs Zimmer geworfen. Das tat gut, den Frust loszuwerden. Mir hat sehr geholfen zu wissen, ich darf auch mal sauer sein und muss mein Korsett nicht immer lieben.

Weiter Physiotherapie und Kontrollen

Auch im Alltag ging es mit der weiter. Teilweise war das Training nach Schroth schon etwas schmerzhaft und anstrengend. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass sich am Rücken etwas bewegt.

Wenn ich merkte, dass das Korsett nicht mehr passte, weil ich gewachsen war, bin ich zur Kontrolle gegangen. Das war bei mir in den drei Jahren Korsettzeit ungefähr jedes halbe Jahr. Es war immer so weit, wenn die Klettverschlüsse nicht mehr richtig zugingen. Ich wurde dann vorher und nachher mit dem neuen Korsett geröntgt, um zu sehen, ob es an den richtigen Stellen drückt und sich die Wirbelsäule auch aufrichtet.

Das Korsett hat im Alltag schon gestört

Es gab schon einiges, an das ich mich gewöhnen musste. Ich konnte nicht so viel auf einmal essen, weil das Korsett den Magen einengt. Da war einfach nicht mehr so viel Platz. Was nervte war auch, dass das Korsett beim Fahrradfahren an der Hüfte gerieben hat.

Im Sommer wurde es im Korsett heiß, da musste ich immer auf meinen Kreislauf achten. Gerade mit dem Korsetthemd drunter, das minimal atmungsaktiv ist, gab es einen Hitzestau. Das war manchmal unerträglich. Wenn ich den Berg hochlaufen musste, war ich schnell außer Atem. So viel Luftholen auf einmal ging nicht, weil auch die Lungen vom Korsett eingeengt wurden.

Gegen die Druckstellen gab es eine Salbe, die die Hautstellen verhornen lässt. Das sah wie Pergamenthaut aus, so braun-bläulich. Meine Eltern haben mir später erzählt, dass viele Leute auf dem Campingplatz blöd geschaut haben, als sie diese Hautstellen sahen, als wir schwimmen waren. Sie dachten, ich werde vielleicht geschlagen. Aber keiner hat sich getraut, etwas zu sagen. Mir selbst sind die Blicke gar nicht aufgefallen. Ich war ja daran gewöhnt, dass die Leute schauen.

Mit weiter Kleidung das Korsett verstecken

Vor allem am Anfang wollte ich nur weite Sachen tragen, um das Korsett zu verstecken. Ich habe immer gedacht, alle wüssten, dass ich ein Korsett trage, weil ich so eckig und steif laufe. Aber das war gar nicht so.

Ich habe zuerst nur in der Männerabteilung eingekauft. Irgendwann habe ich mich aber an die 42-er Damengröße getraut, dann Größe 40 und zum Schluss auch Größe 38.

Meine Eltern fanden ein Mädchen aus meiner Reha toll, das im Sommer nur ein T-Shirt unter dem Korsett trug und nichts darüber. Das wollte ich aber nicht, ich fand das gar nicht cool. Mir war es peinlich, dass das Korsett die Brüste etwas nach oben geschoben und von rechts und links zusammengedrückt hat. Deswegen wollte ich immer ein weites Oberteil drüber tragen.

Das Referat in der Schule hat neugierig gemacht

In der elften Klasse habe ich ein Referat über Skoliose gehalten, auf die Idee bin ich selbst gekommen. Ich habe allen das Wichtigste zu Skoliose erklärt, Röntgenbilder gezeigt und dann das Korsett ausgezogen.

Einige wollten es auch anprobieren. So haben sie ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, den ganzen Tag da drin zu stecken. Sie waren erstaunt, wie eng es war – auf den Körper zugeschnitten und sehr straff.

Offen darüber reden und Humor sind wichtig

Der offene Umgang damit war sehr gut, so fühlte ich mich viel mehr verstanden und nicht so allein. Viel schlimmer sind ja so versteckte Blicke und Getuschel – du denkst dir nur: „Fragt mich doch einfach, was mit mir los ist.“ Am liebsten hätte ich gerufen: „Das ist nichts Schlimmes, es ist nichts Ansteckendes, aber es muss halt sein.“ Ich weiß, dass die Leute einfach unsicher sind, sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Und sie wollen nicht zu persönlich werden, wenn sie direkt fragen.

Meine Freunde in der neuen Schule haben mich aber von Anfang an so angenommen, wie ich bin. Sie kannten mich nicht anders. Sie haben sogar Witze darüber gemacht, aber liebevoll, ohne mich zu verletzen. Sie haben mir den Spitznamen „Turtle“ gegeben, für „Schildkröte“, mit dem Korsett als Panzer. Das war eine schöne Art, damit umzugehen.

Ein Stück Unbeschwertheit ist nicht mehr da

Ich denke, dass ich das Korsett erst mit 16 bekommen habe, also mitten in der Pubertät, hat es nicht leicht gemacht. Da verändert sich sowieso der Körper und viele andere Sachen. Da kann man so etwas wie ein Korsett nicht gebrauchen. Ein Stück Unbeschwertheit war schon nicht mehr da.

Aber meine Freundschaften hat das Korsett nicht beeinflusst. Ich war ja nicht behindert, sondern eingeschränkt in der Bewegung. Ich wollte aber trotzdem alles so weit wie möglich selbstständig machen. Zum Schuhe anziehen habe ich mir zum Beispiel einen Schuhlöffel zugelegt, den benutze ich heute immer noch.

Bei Jungs ganz offen darüber reden

Bei Jungs war ich aber schon erstmal unsicher. Da wird man ja doch anders angeschaut. Ich bin zum Beispiel nicht so gern ins Schwimmbad gegangen, weil ich den Blicken der Jungs einfach entgehen wollte. Auch wenn es im Nachhinein gar keinen Grund dafür gab. Den Kontakt zu Jungs habe ich erst zum Ende der Korsettzeit gesucht, als ich wusste, dass es nicht mehr lange dauert.

Aber auch da hat es mir sehr viel gebracht, offen damit umzugehen. Die Jungs sind ja genauso unsicher, da ist es gut, ganz natürlich darüber zu sprechen.

Das würde ich heute allen Jugendlichen raten: sofort erzählen. Ist ja nichts Schlimmes. Letzen Endes ist es wie eine Zahnspange oder eine Brille, die muss man ja auch tragen. Und man kann sich trösten: Manche Brillen bleiben, das mit dem Korsett geht wenigstens vorbei.

Trotz schwacher Muskeln war ich beim Sport dabei

Ein Nebeneffekt war, dass meine Rückenmuskeln schwächer wurden. Ich habe ja das Korsett 23 Stunden am Tag getragen und nur zum Duschen ausgezogen. Deswegen habe ich vom Orthopäden eine Sportbefreiung bekommen, was ich aber im Nachhinein nicht so sinnvoll fand.

Ich wollte mich ja noch bewegen. Später habe ich mitgemacht, bekam aber keine Note im Fach Sport. Manche Sachen wie Weitsprung durfte ich nicht mitmachen, weil die Wirbelsäule gestaucht wird. Ich habe mich aber mitbewegt, das war sehr wichtig.

In der Zeit nach dem Korsett war es mühsam, die Muskulatur wieder aufzubauen. Aber ich wollte unbedingt Sport machen, weil ich merkte: Wenn ich nichts tue, sacke ich immer mehr in mich zusammen. Nicht wegen der Skoliose, sondern wegen der schwachen Muskeln. Ich hatte Lust auf Karate, bin Fahrrad gefahren und geschwommen. Das tat mir richtig gut.

Die Skoliose hat auch meinen Berufswunsch beeinflusst

Wegen meines Berufswunschs war ich viel in Kontakt mit Krankenkassen und Ärzten, um mich zu beraten, was ich machen kann. Erst wollte ich nach der Realschule eine Ausbildung zur Sozialversicherungsangestellten machen. Ich habe aber dann doch Abitur gemacht, angefangen zu studieren und mache gerade meinen Master. Die Skoliose hat mich auch da beeinflusst: Ich will im Gesundheitsbereich arbeiten. Einfach aus Interesse, weil ja das ganze System sehr komplex ist.

Das Problem ist nur, dass es ein Bürojob ist. Und wenn ich viel sitze, werde ich zum Beispiel einen höhenverstellbaren Tisch brauchen und viele kleine Pausen, um mich zu bewegen. Im Studium habe ich oft im Stehen oder sogar im Laufen gelernt. Ich bin einfach etwas geringer belastbar oder anders belastbar.

Die Skoliose ist nicht stärker geworden

Ich habe das Korsett drei Jahre getragen und bin mit derselben Gradzahl rausgekommen wie zu Beginn. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass die Skoliose noch deutlich besser wird. Aber ich sehe das so: Das Korsett hat mich sicher vor einer Verschlechterung der Skoliose bewahrt.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

Seite kommentieren

Was möchten Sie uns mitteilen?

Wir freuen uns über jede Rückmeldung entweder über das Formular oder über gi-kontakt@iqwig.de. Ihre Bewertungen und Kommentare werden von uns ausgewertet, aber nicht veröffentlicht. Ihre Angaben werden von uns vertraulich behandelt.

Bitte beachten Sie, dass wir Sie nicht persönlich beraten können. Wir haben Hinweise zu Beratungsangeboten für Sie zusammengestellt.

Über diese Seite

Aktualisiert am 03. Januar 2024

Nächste geplante Aktualisierung: 2027

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

So halten wir Sie auf dem Laufenden

Abonnieren Sie unseren Newsletter oder Newsfeed. Auf YouTube finden Sie unsere wachsende Videosammlung.