Depressionen sind in der Gesellschaft angekommen – Psychosen nicht

Foto von Paar, das sich an der Hand hält

Jürgen, Ehemann von Petra, 57 Jahre

„In der ersten Zeit nach der Krise meiner Frau habe ich nur funktioniert. Ich hatte gar keine Zeit, an mich zu denken oder mehr über die Krankheit zu erfahren. Ich wusste nicht viel und war mit meinen Fragen und Ängsten allein.“

Als ich meine Frau Petra kennen lernte, wusste ich nicht, dass sie schon einmal eine Psychose hatte. Aber ich habe es beim zweiten Schub hautnah mitbekommen. Sie hatte damals großen beruflichen Stress und ist in eine Überforderungsspirale geraten.

Anzeichen waren Schlaflosigkeit und Gedankensprünge

Es fing mit alltäglichen Belastungszeichen an: Sie konnte nicht schlafen und war sehr sensibel und geräuschempfindlich. Ich hatte Verständnis, da die Situation im Job wirklich schwierig war.

Später kam dazu, dass sie in Gesprächen sehr hin und her gesprungen ist: Sie hat das Thema häufig gewechselt, man kam nicht mehr mit. Da hatte ich langsam das Gefühl, dass es keine normalen Reaktionen mehr waren.

Meine Frau sagte mir dann selbst, dass sie in die Klinik müsse. Sie erkenne es wieder, da sie schon einmal so eine Krise gehabt habe. Ich wusste noch nichts über die Krankheit und habe ihr beigestanden, ohne groß nachzudenken. Gemeinsam mit ihren Eltern sind wir zur Klinik gefahren, in der sie auch beim ersten Mal behandelt worden war.

In der Klinik wurde meine Frau nicht mit einbezogen

Dort angekommen, wurde sie sofort mit starken Medikamenten komplett ruhiggestellt. Vielleicht war das ja nötig, aber es wurde alles über ihren Kopf hinweg entschieden und sie fühlte sich nicht mit einbezogen. Ihr Vater ist Arzt und hat mit allen Behandelnden „von Kollege zu Kollege“ gesprochen.

Sie selbst hörte nur: „Das kriegen wir schon wieder in den Griff, Mädchen, mach dir keine Sorgen.“ Der Chefarzt war „vom alten Schlag“ und hat es bestimmt gut gemeint, erklärt hat er aber nicht viel.

Für mich war es auch sehr belastend, nicht mit einbezogen zu werden. Ich bin der Meinung, dass man die Patienten bei psychischen Erkrankungen ernst nehmen und sie als autonome erwachsene Menschen behandeln sollte.

Obwohl es die zweite Krise war, wusste Petra nicht wirklich, was los ist und welche Erkrankung sie hat. Schon beim ersten Mal fehlte die Aufklärung – nicht nur über die Krankheit selbst, sondern auch über den Verlauf, die Möglichkeit von Rückfällen und frühe Warnzeichen, um einer Krise vorzubeugen.

Es war meine erste Erfahrung mit der geschlossenen Psychiatrie

In der Klinik war es für mich schon beängstigend, die anderen Patienten zu sehen, die auf den Fluren hin und her liefen und nicht stillstehen oder -sitzen konnten. Und gleichzeitig meine Frau komplett ruhiggestellt zu erleben.

Dort hat sich keiner um mich gekümmert oder mir etwas erklärt, ich war eher ein lästiges Übel. „Ach, da kommt der Mann auch noch“ – so fühlte ich mich immer. Und auch die Eltern meiner Frau haben mir nicht viel erzählt – ich denke, um sie zu schützen und nicht alles offenzulegen.

Ich fühlte mich ausgeschlossen und gleichzeitig überfordert. Irgendwann habe ich es aber geschafft, eine andere Haltung zu entwickeln: Ich habe alles nicht mehr so dramatisch ernst genommen und versucht, gelassen zu bleiben. Aber es war ein langer Prozess.

Meine Frau hatte Angst, dass ich sie wegen der Erkrankung verlasse

Während der Klinikaufenthalte habe ich Petra jeden Tag besucht – als Konstante, damit sie sich nicht alleine fühlte. Es war schwierig, da die Klinik weit weg war, aber ich habe es gemacht. Das war wie ein Anker für uns beide, ich war für sie die Verbindung zur Welt draußen.

Genauso wichtig waren die Rituale bei den Besuchen: Wir haben Tee getrunken, sind spazieren gegangen und danach hat sie mich zum Auto gebracht. Immer dasselbe, auch das hat ihr Halt gegeben. Später zu Hause war es für sie ebenfalls sehr wichtig, einen strukturierten Tagesablauf zu haben.

Petra hatte Angst, dass ich sie verlasse, wenn ich über die Psychose-Erkrankung Bescheid weiß. Aber das war bei mir nie ein Thema, ich habe immer zu ihr gehalten. Für mich ist es eine Erkrankung wie jede andere auch. Es wird doch jeder im Laufe seines Lebens mal krank oder hat eine Krise.

Auf die Wochenbettpsychose waren wir nicht vorbereitet

Einige Jahre später, kurz nach der Geburt unserer Tochter, kam es bei meiner Frau wieder zu einer Psychose. Besonders belastend war, dass ich mich zusätzlich um das Baby kümmern musste. Ich hatte zum Glück einen verständnisvollen Arbeitgeber, der mir unbezahlten Urlaub gewährte.

Es war eine richtig harte Zeit für uns beide: Petra konnte als Mutter ihr zehn Tage altes Baby nicht mehr stillen und selbst betreuen. Ich war von einem Tag auf den anderen allein verantwortlicher Papa: Ich musste noch in derselben Nacht unsere Tochter an die Flasche gewöhnen – und machte mir gleichzeitig Sorgen um meine Frau, die in der Klinik bleiben musste.

Es wäre besser gewesen, wenn wir gewusst hätten, dass eine Psychose auch durch hormonelle Umstellungen ausgelöst werden kann und man deshalb in der Schwangerschaft und der Zeit nach der Geburt mit einer Episode rechnen muss. Dann hätten wir uns zumindest darauf einstellen können.

Ich war mit meinen Ängsten und Fragen allein

Ich habe in dieser Zeit nur funktioniert: Das Wichtigste waren meine Frau und das Baby. Damals hatte ich gar keine Luft und keinen Raum, um mehr über die Krankheit zu erfahren und zu lesen. Ich wusste nicht viel und war mit meinen Ängsten und Fragen alleine.

Die Erholung von Petra hat sich bei dieser Krise sehr lange hingezogen, die Entlassung aus der Klinik wurde immer wieder verschoben. Sie war darüber natürlich sehr enttäuscht.

Der Kurs in der Klinik über die Erkrankung hat viel gebracht

Positiv war aber, dass sie in dieser Klinik sehr gut begleitet wurde. Vor allem gab es dort einen Kurs für Patientinnen und Patienten, in dem die Hintergründe der Krankheit genau erklärt wurden: Was sind die Ursachen, was die Auslöser? Wie wird behandelt?

Auch zu den Medikamenten erfuhr Petra viel: Was sind die Basismedikamente? Wann nehme ich die Bedarfsmedikamente, wenn ich merke, da kündigt sich wieder eine Episode an? Und welche Notfall-Medikamente nehme ich, wenn das Gedankenkarussell sich immer schneller dreht?

Das war auch für mich der Anlass, mehr über die Krankheit zu erfahren. Ich habe Leitlinien für Ärztinnen und Ärzte gelesen und auch Patienteninformationen für Betroffene und Angehörige gefunden. Das hat mir sehr geholfen, zu verstehen, worum es genau geht.

Auf Anzeichen für eine beginnende Krise zu achten, ist sehr wichtig

Wichtig finde ich, zu lernen, wie man im frühen Stadium Anzeichen für eine beginnende Krise erkennt – und zwar als Betroffene, aber auch als Angehörige und Freunde. So kann man rechtzeitig reagieren und einer Krise vorbeugen. Solche Frühsymptome sollte man als Warnsignal für zu hohe Belastungen sehen, um rechtzeitig „den Stecker zu ziehen“ und sich etwas abzuschirmen.

Das zieht sich auch durch unseren Alltag: Wenn es Petra zu viel wird, dann nehmen wir das ernst. Wenn wir eigentlich die Großfamilie besuchen wollen oder bei schönem Wetter eine zehn Kilometer lange Wanderung vorhaben, kann es sein, dass es ihr instinktiv zu viel ist. Und dann verbringen wir stattdessen einen ruhigen Tag zu Hause. Für mich ist ganz klar, dass ich darauf Rücksicht nehme. Das würde ich ja auch machen, wenn ich eine Partnerin hätte, die häufig Kopfschmerzen hat oder von Natur aus nicht so viel unternehmen will.

In der Partnerschaft habe ich Rücksicht genommen und motiviert

Belastend war, dass Petra in den akuten Krankheitsphasen Vorwürfe und Anklagen mir gegenüber ausgesprochen hat, die sehr heftig waren. Ich habe dabei versucht, Abstand zu gewinnen, mir selbst zu sagen, „das nehme ich jetzt zur Kenntnis“, und erst einmal abzuwarten. Als sie wieder gesund war, konnte sie sich an diese Gespräche und Vorwürfe nicht mehr erinnern.

Ich habe versucht, sie bei jedem Erfolg zu unterstützen und ihr zurückzumelden, wie toll sie das macht. Wir sind beide nach dem Hamburger Modell wieder in den Beruf eingestiegen: ich nach der Kinderbetreuungszeit, sie nach der Krise. Ich habe mich sehr für sie gefreut, dass sie es geschafft hat, wieder zu arbeiten.

Manchmal hat Petra sich meiner Meinung nach zu viel Druck gemacht: Wenn sie nach einer Krise aus der Klinik wieder nach Hause kam, hatte sie ein starkes Bedürfnis, möglichst schnell wieder von den Medikamenten runterzukommen und die Dosis zu reduzieren. Ich glaube, das kommt aus der Angst, sich zu sehr an die Medikamente zu gewöhnen und vielleicht „süchtig“ zu werden. Ich denke, da wäre es vielleicht besser, etwas mehr Geduld zu haben.

Wir haben versucht, unsere Tochter so gut wie möglich zu informieren

Unsere Tochter haben wir später miteinbezogen und ihr erklärt: „Die Mama hat eine Erkrankung, die nicht jede hat und die auch wiederkommen kann.“ Wir haben ihr versucht zu vermitteln, dass es nach einer Krise weitergeht und dass es gute und wirksame Medikamente gibt. Das hat sie akzeptiert und damit gelebt.

Aber es hat etwas mit ihr gemacht. Sie hat sich gefragt, ob sie das vielleicht vererbt bekommen hat. Und dieses Wissen hat sie schon belastet: Sie hat danach depressive beziehungsweise schwierige Zeiten gehabt. Wir wollten sie aber immer informieren und ihr nichts verheimlichen.

Ich habe bei den späteren Krisen meiner Frau versucht, den Alltag für unsere Tochter so normal wie möglich zu gestalten. Sie konnte Freundinnen zu uns einladen – für Spieleabende oder um Filme zu schauen – und sie konnten bei uns übernachten. In die Klinik ist meine Tochter nicht so oft mitgekommen. Ich glaube, der Alltag mit Schule und Freundinnen hat ihr Halt gegeben und sie hat darauf vertraut, dass ihre Mutter irgendwann wiederkommt.

Depressionen sind in der Gesellschaft angekommen – Psychosen nicht

Was ich Angehörigen raten würden, die ganz neu in der Situation sind: erst einmal mehr über die Erkrankung erfahren, lesen und mit den Ärztinnen und Ärzten sprechen. Aber auch mit den Betroffenen selbst sprechen und sie ernst nehmen.

Meine Einsicht ist: Es handelt sich um eine Erkrankung wie jede andere auch. Andere Menschen haben zum Beispiel Rheuma, Diabetes oder eine . Auch sie müssen Medikamente nehmen und so gut wie möglich damit leben.

Was mir sehr wichtig ist: Psychosen und Schizophrenie sind stigmatisiert. Viele Menschen haben ein falsches Bild und denken: „Das sind die Verrückten dort in den geschlossenen Stationen.“ Das Verhalten von Menschen in einer akuten psychotischen Phase wirkt ja seltsam und kann Angst machen. Und das erschwert für die Betroffenen und die Angehörigen die Behandlung und den Umgang im Alltag. Man könnte sich viel mehr Unterstützung holen, wenn die Krankheit akzeptiert und bekannt wäre.

Auch meine Frau belastet es sehr, dass sie nicht so einfach allen von ihrer Erkrankung erzählen kann. Offen darüber mit dem Arbeitgeber sprechen? Das will sie – zu Recht – nicht. Ein paar sehr engen Freunden haben wir es erzählt und die unterstützen uns auch sehr. Aber in der weiteren sozialen Umgebung können wir das nicht.

Das ist beim Krankheitsbild „“ mittlerweile anders: Man spricht darüber und es ist anerkannt. Wenn bekannte Menschen wie Prominente oder Sportler über ihre Psychose öffentlich sprechen würden, wäre allen sehr geholfen.

Es ist nichts Gefährliches – und man kann es behandeln

Ich bin dankbar, dass es gute Medikamente gibt, mit denen man wieder ein normales alltägliches Leben führen kann.

Die Ursachen und Symptome einer psychischen Erkrankung sollten bekannter sein, damit mehr Menschen verstehen: Es ist nichts Gefährliches. Der überwiegende Teil der Betroffenen leidet selbst am meisten und ist für andere Personen nicht bedrohlich.

Ich habe mittlerweile gelernt, damit zu leben, und mich damit angefreundet. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es geht, man muss keine Angst davor haben.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Über diese Seite

Erstellt am 19. April 2023

Nächste geplante Aktualisierung: 2026

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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